Lesungen und Vorträge

Judith Schalansky im Stuttgarter Literaturhaus: Momentaufnahmen mit der getippten Camera Obscura

das A&O mit der Autorin Judith Schalansky: links blaue Hose, rechts blaue Schuhe

Sitzsatz zum Abend im Stuttgarter Literaturhaus im Sinne der Sitzsatz-Philosophie

Judith Schalansky macht es sich im Sehnsuchtsraum Insel durch Literatur gemütlich:

„Ich bin Abenteurerin, theoretisch. Die eigentliche Herausforderung ist es doch, zuhause zu bleiben, wenn man eigentlich überall hin kann.“

Die Camera Obscura

Eine Lochkamera ist eine Kamera der einfachsten Art: Box mit nadelstichgroßem Lichteinfall. So gebe ich mal mein angelesenes Rudimentärwissen wieder. Und weil wir hier nicht bei Satzsitz mit der Maus sind, sondern auf einem Literaturblog, verrate ich euch auch sofort, wie eine solche Lochkamera im ganz geschmeidigen Zusammenhang mit Judith Schalanksy, dem Stuttgarter Literaturhaus und meinem Bericht über beide steht. Bis Anfang Juli gibt es im Stuttgarter Literaturhaus eine Ausstellung namens Camera Obscura zu sehen, Aufnahmen eines Stuttgarter „Licht- und Fotokünstlers“. Eine solche Lochkamera bekam Judith Schalansky dort überreicht (ob sie bei der Übergabe des „Preises der Literaturhäuser auf der Leipziger Buchmesse vergleichbar freudig gejubelt hat, ist leider nicht überliefert).

Deshalb steht mein Bericht über diesen Abend unter dem Motto Lochkamera. Ich zeige euch drei Momente aus Satzsitzperspektive: simple Abbildungen von das A&O, buchstabenbelichtet ohne Anspruch auf literarische Tiefenschärfe, eingerahmt von obigem Sitzsatz. Das Abenteuer Autorin.

Titelbild: Autorin Judith Schalanksy spricht, das A&O dekoriert mit Schrift und farbigen Formakkzenten
das A&O zur Lesung von Judith Schalansky im Literaturhaus Stuttgart am 16.05.2014

Abenteuer Publikum: Mein Platz ist eine „reservierte“ Insel

Abgelegte Jacken, Taschen und gefaltete Tageszeitungen markieren das Revier der vorderen Stuhlreihen: Hier ist besetzt, man holt sich noch schnell einen Wein, bevor es losgeht. Die Jacken sind schick, die Zeitung Die Zeit. Das Publikum ist … im Literaturhaus. Hier hält an diesem Abend Judith Schalansky auf ihrer Lesereise durch die Literaturhäuser in Stuttgart Station. Hier hält Literaturkritiker Hubert Winkels ihr zu Ehren eine halbstündige (!) Laudatio, die in kaskadenartigen Schachtelsätzen feierlich die Lesebühne fluten.

Und hier zeigt das Publikum in einem zurückgenommen Lachmurmeln, das an rollende, sich aneinander reibende Kieselsteine erinnert, dass es die pointierten Literaturanspielungen verstanden hat.
Versteht mich nicht falsch, ich mag das hier. In mir ruht die Frage, wie das wohl ist, in unmittelbarer Nähe solch abschweifende Lobgesänge auf sein eigenes Werk vorgetragen zu bekommen. Mein Blick wandert zur Autorin. Sie lauscht aus der ersten Reihe. Zurückgelehnt, Füße überkreuzt. Sie trägt Sneaker zum Hosenanzug.



[Tweet „Judit Schalansky lauscht aus der 1.Reihe. Zurückgelehnt. Sie trägt Sneaker zum Hosenanzug.“]

Abenteuer Klischee: auf Abwegen und Abgelegenem

„Klischees tun weh“, sagt Judith Schalansky. Sie interessiert sich für diesen Schmerz, hat seine Ursache so genau analysiert, dass sie ihn in ihren Romanen scheinbar wertfrei wachrufen kann. Wenn man denn hinhört. Lehrerin Lohmark verkündet innerhalb ihres Figurenkonzepts von Der Hals der Giraffe so manche Unwahrheit und ideelle Schieflage, auf die nicht nur ein Fachmann in spitzfindigen Leserbriefen an den Verlag aufmerksam gemacht hat. „Manchmal wundere ich mich schon über die literarische Kompetenz von Biologielehrern“, kommentiert Schalansky schmunzelnd.
Sie greift noch tiefer in die Autorinnen-Anekdotentasche, zeichnet nach, wie sie Lehrerin Lohmark als „heimliche Zwillingsschwester Merkels“ verschriftlicht hat und lässt ein erneutes Kieselsteinlachen durch das Publikum rollen.

Sicher will man es sich hier nicht verscherzen? Zwar geht sie dorthin, wo’s wehtut. Gleichzeitig weiß sie benennend Adjektive in diesem Zusammenhang geschickt zu umschiffen. Die gehören offensichtlich in persönliche Statements, wie in ihrer Replik auf Sibylle Lewitscharoff. Homoerotische Nähe zwischen Matrosen, der CSD und „verkehrte“ Geschlechterrollen bleiben so erwähnte, aber unbetretene Wortinseln. (Mein kurzer Clip hat einen kleinen Moment davon eingefangen.)
In der Recherche zum bereits verworfenen „Monsterbestimmungsbuch“ klassifizierte sie drei Unterarten von Monster: reptilartige, vergrößerte und schleimige. Sonst nichts. Von Menschen erdachte Monster blieben daher leider immer langweilig. „Das wahre Monster ist vielmehr Frau Lohmark.“ Mutig durchs Minenfeld. Die Kieselsteine rollen pointiert daran vorbei.


[Tweet „Mutig durchs Minenfeld. “Klischees tun weh”, sagt Judith Schalansky. Abenteuer Autorin.“]
Autorin Judith Schalansky in Aussage untermauernder Pose. Im Literaturhaus Stuttgart 2014
Ein Blick von und auf Judith Schalansky

Abenteuer Insel: abgemessene Erzählräume

Flüsternd, fast verschwörerisch liest Judith Schalansky von der Kokosinsel. Die Quotenschatzinsel in ihrem Atlas der abgelegenen Inseln: Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde. Ihre Stimme zieht sofort in den Bann, die fortwährenden Anekdoten („Ja, manche Inseln habe ich auch einfach nach ihrem Namen gecastet“) tun ihr Übriges: Schalansky-Insel, voller Kurs. Humorvoll lässt uns die Autorin regelrecht auflaufen: „Soll ich Ihnen was sagen, ich mag Inseln gar nicht. Halbinseln find ich das beste!“

Inseln, das sind für sie Erzählräume aus Schrecklichem, „das Glück ist zu langweilig“. Der Bucheinband muss dem angemessen verarbeitet sein, richtig spröde „und finden Sie mal ein echt trauriges Blau!“.
Das Gesamtkonzept Buch habe ich noch nie so spannend erlebt wie auf der Schalanky-Insel. Gestalterisch. Rhetorisch. Sympathisch. Das Wort gemütlich ist außerdem in inselnahem Literaturkontext gefallen. Die Autorin zeigt sich der literarischen Lochkamera im besten buchstabenbunten Licht: Aufnahme von das A&O.


[Tweet „Das Gesamtkonzept Buch habe ich noch nie so spannend erlebt wie auf der Schalanky-Insel.“]


Titelbild: Autorin Judith Schalanksy spricht, das A&O dekoriert mit Schrift und farbigen Formakkzenten
das A&O zur Lesung von Judith Schalansky im Literaturhaus Stuttgart am 16.05.2014

Mit diesem Blogbeitrag habe ich heute – allem voran mit Bildbearbeitung – so einige Stunden verbracht. Meine Satzsitz-Sucht. Ich hoffe, sie hat euch einen unterhaltsamen Leserausch beschert. Wenn ihr meine getippte Camera Obscura mochtet, freue ich mich, wenn ihr sie weitertragt und z. B. vom „Click to tweet“ Gebrauch macht. In der Zwischenzeit freue ich mich über eure Eindrücke zu dem Beitrag, Judith Schalansky oder abgelegenen Inseln. Es grüßt mit rasselnden Kieselsteinen: das A&O

6 Kommentare zu “Judith Schalansky im Stuttgarter Literaturhaus: Momentaufnahmen mit der getippten Camera Obscura

  1. Ish seh das alles vor mir und höre die steinchen:-)

  2. Kati Fräntzel

    Wie schade, dass ich es nicht gebacken gekriegt habe, dabei zu sein. UNd wie schön, dass ich dank dir doch das Gefühl habe, beinahe dagewesen zu zu sein. Danke!

    • das A&O

      Kati! Wie schön! Danke für dein Kommentar!! Drücke meine Freude darüber mit tanzenden Ausrufezeichen aus, siehst du’s? ; ) Undundund: Wann kann ich freudig auf deinem Blog to be kommentieren?

  3. Wenn das Vergessen nicht so emsig wäre und ich mich also rechtzeitig erinnert hätte, dass von Judith Schalansky der schöne Atlas abgelegener Inseln ist, wäre ich wohl doch mitgegangen. Zum Glück immerhin gibt’s die blauschönen Berichte vom A&O.

    • das A&O

      Ist ja nicht aller Inseln Abend. Die nächste Maer von mare trage ich dir dann deutlicher zu ;)

  4. Kalispära, Alexandra.
    Abenteuern die Schranken der eigenen Gedanken zu geben, läßt sie vermutlich auskostbarer werden. Irgendwo hin zu können bedeutet ja nicht zwangsläufig auch dortwo angekommen zu sein.

    Eine „Lachmurmel“ mag ein besonder Ding sein. Bunt, rund, durchscheinig.

    Denke ein Hubert Winkels hat eine literarisch, mediale Routine, die einen nicht mit Fleischwolf-Worten in den Boden sediert.
    Deine ver-dachte Frage: Für die Schriftstellerin Judith Schalansky ist ein voran-intonierter Hymnus auf ihr Wortwerk Routine. Bühne, TV, Radio.
    Übrigens…bequemes Schuhwerk ist das A&O!

    Sibylle Lewitscharoff hat sich Ihre Replik (wie jede andere auch) wohl verdient. Dünkel verdunkelt, wie sie sich in besagter Rede ver-outete*.

    Wiederum angenehm Deine Welt erwortet einlesen zu können.

    bonté

    *wobei eine Frage im Raum schwebt, wie sie es dann mit der „jungfräulichen Empfängnis“ so halten mag.

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